Wer an Bremen denkt, mag an Werder und das Weserstadion, die Stadtmusikanten, das historische Rathaus oder die Weser denken. An das “Viertel” denken die wenigsten, dabei ist das Quartier der Szenestadtteil der Hansestadt.
Einst Arbeiterviertel, dann stadtbekannter Drogenumschlagplatz und jetzt ein gentrifizierter Melting Pot der Kulturen und der Kultur, in dem Boutiquen, Szenerestaurants, Prostuierte, Dönerläden, Kinos und offener Drogenhandel in durchaus gewollter Koexistenz nebeneinander bestehen.
Dieses Quartier will also im Rahmen eines Fotowalks erkundet werden und wie bei den bisherigen Fotowalks habe ich auch diesen an der Seite meiner lieben Freundin Caro unternommen.
Wir haben uns zudem sehr gefreut, dass Daniel Lust hatte, sich uns anzuschließen und mit uns gemeinsam den Teil der Stadt zu erkunden, in dem er selbst lebt.
Ich kenne Daniel aus einer Fotogruppe, die ich einst mitbegründet hatte. Daniel kam kurz nach der Gründung zu der Gruppe und war eine echte Bereicherung. Nicht nur wegen seines fulminanten Humors, seiner Freundlichkeit und Zugewandtheit, er ist auch ein ausgesprochen guter Fotograf und hat im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern der Gruppe ein echtes Interesse, sich fotografisch zu entwickeln.
Ironischerweise führte ausgerechnet mein Blogartikel zu Caros und meinem >ersten Fotowalk zu einem ersten Bruch mit der Gruppe, aus der ich inzwischen ausgetreten bin.
Auslöser war meine Einleitung, in der ich sagte, dass ich ein ambivalentes Verhältnis zu Fotowalks hätte, weil ihnen die Gefahr immanent sei, sehr belanglos vor sich her zu knipsen, aber wenig gezielt und gut zu fotografieren.
Ein paar Wochen zuvor hatte ich in der Fotogruppe vorgeschlagen, dass wir perspektivisch versuchen könnten, alle Bremer Stadtteile mit der Kamera zu ergründen.
Und irgendwie hat ein fotografisch völlig irrelevantes, dafür aber umso meinungsstärkeres Mitglied der Gruppe aus dieser Einleitung die etwas gewagte Herleitung konstruiert, ich würde Fotowalks grundsätzlich als überflüssigen Mist betrachten und hätte mit jener Einleitung meinen eigenen Vorschlag korrumpiert.
Dass dem nicht so ist, zeigt, dass Caro und ich mit unserem Walk durch das Viertel bereits unsere fünfte Unternehmung in der kleinen, sich mittlerweile zur Institution entwickelnden Reihe unternommen haben.
Und wenngleich ich bei meiner grundsätzlichen Haltung zu Fotowalks bleibe, nämlich, dass dabei viel Mist entstehen kann, wohnt jedem Walk auch die Möglichkeit inne, mitunter zumindest mich begeisternde Fotografien zu erstellen.
Die Bandbreite von “ich bin ziemlich aus dem Häuschen” bis “da war heute fast nur Schrott dabei” decken die bisher unternommenen Fotowalks auch ausgesprochen gut ab.
Gleichsam sollte dieser Walk zu jedenfalls meinem persönlich Besten werden. Und das lag sowohl an der Zielsetzung, als auch einer damit einhergehenden Einschränkung, die ich mir selbst für den Walk gegeben habe.
Ich hatte nur ein Objektiv dabei, eine feste Brennweite. Das heißt, dass man damit nicht zoomen kann. Und ich wollte mich erstmals ernsthaft in der Straßenfotografie versuchen.
Feierabend und Bier
Bevor wir aber überhaupt loszogen, war Alkohol angeordnet. Durch uns selbst.
Da ich meistens deutlich vor Caro Feierabend machen kann, habe ich sie von der Arbeit abgeholt und zur weiteren Einstimmung in den Abend haben wir drei uns dann zunächst mal ein Feierabendbier gegönnt und uns nett unterhalten.
Zu den Grundvoraussetzungen für einen gelungenen Fotowalk gehört übrigens, dass weder Caro noch ich unmittelbar davor Lust haben, tatsächlich loszuziehen und wir immer hoffen, dass der jeweils andere kurzfristig absage.
Zwar war es um meine Lust als ich mich auf den Weg gemacht habe, durchaus gut bestellt. Als wir dann aber gemütlich bei unserem inzwischen zweiten Feierabendbier zusammenstanden, sank auch meine Motivation auf ein absolutes Tief.
Das Wetter war schlecht, unsere Unterhaltung deutlich zu nett und das vergleichsweise hochprozentige Desperados-Bier wirkte auch nicht zwingend aktivitätsfördernd.
Aber zum Glück wartete Daniel auf uns, so dass Caro und ich uns dann auf den Weg in das Viertel gemacht haben.
Nach der kurzen Begrüßung mit Daniel sind wir dann auch direkt los. In meinem Falle hieß das, die Kamera zunächst auf schwarz / weiß einstellen und dann auf Motivsuche gehen.
Das “Viertel” ist auch unter der Woche zumeist gut frequentiert und trotz des schlechten Wetters war es zwar nicht übermäßig voll, aber es herrschte immerhin eine relative Betriebsamkeit.
Derzeit findet auch der Bremer Freimarkt statt, das ist einer von zwei Jahrmärkten in der Stadt, was sicherlich zu einer spürbaren Reduktion der Besucher im Szenequartier geführt hat.
Gleichsam fängt aber auch das neue Semester an, so dass viele Studierende, insbesondere die sogenannten “Ersties”, also die Studienanfänger:innen, um die Häuser zogen. Gerade die Irish Pubs und das Kulturzentrum “Lagerhaus” sind beliebte Treffpunkte für die Student:innen.
Vom Rollo, das man essen kann
Eine originäre kulinarische Errungenschaft des Stadtteils, sozusagen ein persisch-hanseatischer Crossover ist der Rollo.
Der Rollo ist ein Teigfladen, der mit verschiedenen Salaten, Dönerfleisch, Käse und Saucen gefüllt, zu allen Seiten geschlossen und dann gebacken wird.
1982 soll ein iranischstämmiger Imbissbetreiber den Rollo erfunden haben, der sich mittlerweile auch über die Stadtgrenzen Bremens hinaus verbreitet hat, aber im Viertel seinen Ursprung feiert.
Der Imbiss “Tandour” verkauft die Spezialität und liegt unweit der Sielwallkreuzung, die nicht nur grob die Mitte des Viertels markiert, sondern auch bundesweit wegen der regelmäßig stattfindenden Ausschreitungen zwischen Linksautonomen und der Polizei in den Silvesternächten bekannt ist.
Unser Weg führte uns zunächst Richtung Weserdeich, der Fluss, der die Stadt durchschneidet, markiert die südöstliche Außengrenze des Quartiers, wobei es dann durch die hübschen Seitenstraßen direkt wieder zurück in den eher pulsierenden Teil des Viertels ging.
In den ruhigen Nebenstraßen finden sich viele der wunderschönen Altbremer Häuser, die von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Ende der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gebaut wurden.
Die Häuser haben hohe Zimmerdecken, meist Holzböden und sind sehr beliebt und mittlerweile fast unbezahlbar.
Und so bilden die Seitenstraßen einen angenehm ruhigen Kontrast zu den belebten Hauptstraßen und es fanden sich, außer einem Mann, der genussvoll kiffend in seinem Vorgarten saß, kaum Menschen in den Straßen.
Wir haben uns aber wieder recht zielstrebig zurück in den Kern des Viertels aufgemacht und dort eine letzte kleine Runde gedreht.
Leider kann ich immer nicht so wahnsinnig lange unterwegs sein, mein Wecker klingelt meistens um kurz nach vier Uhr in der Frühe, aber ein paar letzte Fotos waren zum Glück noch drin.
So ist auch mein unbestrittenes Lieblingsfotos dieses Walks und sicherlich eines meiner Lieblingsfotos dieses Jahres entstanden. Der Mann, der auf sein Smartphone schauend, an mir vorbeiläuft, während in der Spiegelung der Scheibe noch vage eine Person zu erkennen ist, die aus Betrachter:innensicht rechts entgegenläuft.
Unser Walk neigte sich spürbar dem Ende entgegen, wir kamen aber noch an ein paar Imbissen und Restaurants vorbei und konnten noch weitere schöne Fotos schießen.
Du kannst übrigens eines der Fotos, die Daniel auf dem Walk gemacht hat, >auf seinem Instagram-Kanal bewundern.
Es war inzwischen an der Zeit, Abschied voneinander zu nehmen. Stilecht natürlich vor einer Döner-Bude. Und während Daniel noch in eine Bar weiterzog, machten Caro und ich uns auf den gemeinsamen Heimweg.
Caro und ich wohnen in unmittelbarer Nähe zueinander und konnten so noch einer, neben der Fotografie, weiteren gemeinsamen Leidenschaft nachgehen: dem Spazierengehen.
Und da wir beide den Tag über noch nichts gegessen hatten, haben wir uns noch einen Cheeseburger bei einer berühmten Fast-Food-Kette gegönnt.
Am Ende war ich dann doch deutlich später zu Hause, als ich das vorhatte, aber durchaus glücklich mit meiner Bildausbeute. Für einen ersten Versuch im Genre der Street-Fotografie bin ich mit einigen Fotos sehr zufrieden und konnte dann auch glückselig einschlafen.
Der Wecker klingelte dann am nächsten Morgen auch erst eine Stunde später, was aber auch nur bedeutet, dass ich auf meine Laufrunde verzichten musste. Und das war der angenehme Abend, den ich mit zwei tollen Menschen und meinem liebsten Hobby verbringen durfte, uneingeschränkt wert.