Ich bin glücklich, Teil einer Fotogruppe sein zu dürfen, die sich auf jedem ihrer Treffen eine Hausaufgabe als kleine fotografische Herausforderung gibt.
Für unser letztes Gruppentreffen galt es, das Thema “Spuren hinterlassen” in der Zentralperspektive zu fotografieren.
Wir nutzen für die kleine fotografische Challenge, die wir auf jeder Sitzung besprechen, konstruktiv kritisieren und für die wir einen Gewinner küren, das Kartenspiel “Bigger Picture Cards”.
Tatsächlich war es die in Kreide getupfte Axt, die mir relativ schnell eine zumindest grundsätzliche Bildidee kommen ließ. Ich hatte die Vorstellung, ein Verbrechen zu dokumentieren — möglichst blutig, aber dennoch mit einem Augenzwinkern. Und dann eben in der Zentralperspektive.
Nun ist “ein Verbrechen dokumentieren” alles andere als eine konkrete Vision. Es ist mehr eine leere Leinwand, die mit Inhalt gefüllt werden möchte. Und so tat ich, was ich immer tue, wenn ich mal einen Kreativschub brauche: ich bin spazieren gegangen.
Dabei entstand allmählich tatsächlich ein Bild in meinem Kopf. Als ich auf dem Gelände einer ehemaligen Kellogg’s‑Fabrik an einem von zwei Maschendrahtzäunen eingerahmten und mit kalten Neonröhren beleuchteten Durchgang vorbeikam, war mir relativ schnell klar, dass dies die Location sein müsse. Es war heruntergekommen, wenig einladend, kalt und nachgerade cineastisch.
Ich habe zwei sehr freundliche nunmehr Ex-Arbeitskolleg:innen, die zudem ausgesprochen gut aussehen und grundsätzlich keine Scheu haben, vor der Kamera zu stehen. Beide wollte ich gerne als Model haben.
Zu meinem Glück erklärten sich beide relativ kurzfristig bereit, an dem etwas ausgefallenen Projekt teilzunehmen und so ging es für mich allmählich in die Vorbereitung.
Das Wichtigste habe ich zuerst besorgt: Bier. Bier hält Models nämlich auch bei kalten Temperaturen bei Laune. Und den Fotografen ebenfalls.
Wie ich erwähnte, wollte ich den Shoot durchaus blutig gestalten. Und durch Zufall konnte ich mich vage erinnern, dass sich Chanti zum letzten Halloween mit Kunstblut versorgt und über üppige Reste verfügte — und so war auch das Blutproblem direkt gelöst.
Im Vorfeld habe ich übrigens mit verschiedenen Utensilien probiert, wie sich Blutsprenkler am besten gestalten lassen und ein Make Up-Pinsel stellte sich als gute Wahl heraus. Die Spritzer waren nicht zu klein (Zahnbürste) und nicht zu groß. Special-Effects-Expert:innen mögen da noch bessere Werkzeuge in ihrem Repertoire haben, aber für mein Foto sollte der Make Up-Pinsel reichen. Und falls du dich fragst, warum ich einen Make Up-Pinsel zuhause habe: warum nicht?
Nachdem Chanti mit Wärmflasche sowie Bier, Marcel und ich nur mit Bier versorgt waren, habe ich ein paar Probeaufnahmen gemacht, um mal zu prüfen, wie die beiden ideal zueinanderstehen, ob es hell genug ist und noch irgendetwas an der Location gebastelt werden musste.
Es passte aber alles und so konnte es nach ein paar Probeaufnahmen losgehen. Was zunächst hieß, dass der vor allem für mich spaßige Teil begann: ich durfte meine Models einbluten.
Ich weiß gar nicht, wen ich dabei mehr bedauert habe: Chanti, der ich hemmungslos Kunstblut in das Gesicht gepinselt und auf den Arm geschmiert habe, oder Marcel, der bei den kalten Außentemperaturen auch noch relativ kaltes Kunstblut über sein T‑Shirt gegossen bekam. Warum es mir übrigens so viel Freude bereitet hat, die beiden mit Kunstblut einzusauen, mag einer tiefenpsychologischen Analyse bedürfen, soll aber nicht Gegenstand dieses Artikels sein.
Mit großer Freude konnte ich dann mit dem Fotografieren beginnen. Chanti hat mir die Arbeit dabei ausgesprochen leicht gemacht. Denn obwohl sie nicht professionell modelt, agiert sie ausgesprochen souverän vor der Kamera, setzt auch kleine Änderungen an Posen schnell um und hat vor allem viel Geduld mit mir. Marcel hatte eigentlich nicht viel zu tun, außer eben auf dem Boden zu liegen — gerade in Anbetracht der kalten Außentemperatur lag mir dann aber schon sehr daran, den Shoot nicht unnötig auszuweiten, schließlich sollte er sich nicht meinetwegen auf seiner Arbeit mit einer Lungenentzündung krankmelden müssen.
Für ein wenig Amüsement sorgten übrigens die paar Passanten, die auf ihren Fahrrädern den Durchgang durchfahren oder hindurch spazieren mussten. Die blutverschmierte Chanti und der mit Blut vollgesiffte Marcel dürften schon ein wenig irritierend gewirkt haben, da das Setting aber klar als Fotografie erkennbar war, sorgte unser Exzess mit künstlichem Sanguis vor allem für Belustigung.
Nachdem ich meine Fotos auf der Speicherkarte hatte, konnten die Models sich endlich wieder warm anziehen und wir gemeinsam zum Abschluss noch ein Bier trinken.
Da nun nicht mehr erkennbar war, dass wir fotografieren, muss die Szenerie auf den freundlichen Herrn, der auf seinem Fahrrad vorbeikam und die blutbesprenkelte Chanti, die da mit ihrem Bier, ihrer Wärmflasche und einer Zigarette saß und dabei sichtlich guter Laune war, durchaus befremdlich gewirkt haben.
Und ich rechne ihm unbekannterweise sehr hoch an, dass er sich direkt bei ihr erkundigte, ob wirklich alles in Ordnung sei.
Meinen Hinweis, dass wir gerade fotografiert hätten, wies er gereizt zurück. Er habe nicht mich, sondern sie gefragt. Und er wolle von ihr hören, dass sie okay ist.
Ich habe wahnsinnigen Respekt und empfinde große Hochachtung vor dem Herrn. Wir standen mit zwei Männern vor Chanti und er hatte die Courage, einfach stehenzubleiben und ihr helfen zu wollen.
Wir brachten den Abend dann bei mir daheim zu Ende. Als fürsorglicher Fotograf habe ich natürlich alles aufgefahren, was aufgefahren werden kann, damit vor allem Chanti das ganze Blut von ihrem Arm und aus ihrem Gesicht wischen kann. So war ein kleiner Wellness-Abend sozusagen noch inbegriffen, jedenfalls rede ich mir die halbe Stunde, die sie im Bad verbringen musste, um sich abzuschrubben, auf diese Weise schön.
Es versteht sich von selbst, dass ich die beiden dann noch auf Bier und Pizza eingeladen habe und wir direkt die Fotos gesichtet und ausgewählt haben.
Und so zog sich der Abend bei netten Gesprächen und hoffentlich für alle Beteiligten schönen Erinnerungen bis in die Nacht.
Zum Abschluss daher noch einmal meinen aufrichtigen und herzlichen Dank an Chanti und Marcel: ihr seid großartig und ohne euch wäre das Foto offensichtlich niemals möglich gewesen.