Das Mas­sa­ker in der Über­see­stadt

Das Mas­sa­ker in der Über­see­stadt

Für meine Fotogruppe galt es, eine Hausaufgabe zu erfüllen: Die Spur eines Handelns oder Verbrechens in der Zentralperspektive abzulichten. Vielleicht ist das Ganze ein wenig eskaliert.

Das Mas­sa­ker in der Über­see­stadt

Für meine Fotogruppe galt es, eine Hausaufgabe zu erfüllen: Die Spur eines Handelns oder Verbrechens in der Zentralperspektive abzulichten. Vielleicht ist das Ganze ein wenig eskaliert.

Ich bin glück­lich, Teil einer Foto­grup­pe sein zu dür­fen, die sich auf jedem ihrer Tref­fen eine Haus­auf­ga­be als klei­ne foto­gra­fi­sche Her­aus­for­de­rung gibt.

Für unser letz­tes Grup­pen­tref­fen galt es, das The­ma “Spu­ren hin­ter­las­sen” in der Zen­tral­per­spek­ti­ve zu foto­gra­fie­ren.

Wir nut­zen für die klei­ne foto­gra­fi­sche Chall­enge, die wir auf jeder Sit­zung bespre­chen, kon­struk­tiv kri­ti­sie­ren und für die wir einen Gewin­ner küren, das Kar­ten­spiel “Big­ger Pic­tu­re Cards”.

Die Auf­ga­be aus dem Kar­ten­spiel “Big­ger Pic­tu­re Cards”

Tat­säch­lich war es die in Krei­de getupf­te Axt, die mir rela­tiv schnell eine zumin­dest grund­sätz­li­che Bild­idee kom­men ließ. Ich hat­te die Vor­stel­lung, ein Ver­bre­chen zu doku­men­tie­ren — mög­lichst blu­tig, aber den­noch mit einem Augen­zwin­kern. Und dann eben in der Zen­tral­per­spek­ti­ve.

Nun ist “ein Ver­bre­chen doku­men­tie­ren” alles ande­re als eine kon­kre­te Visi­on. Es ist mehr eine lee­re Lein­wand, die mit Inhalt gefüllt wer­den möch­te. Und so tat ich, was ich immer tue, wenn ich mal einen Krea­tiv­schub brau­che: ich bin spa­zie­ren gegan­gen.

Dabei ent­stand all­mäh­lich tat­säch­lich ein Bild in mei­nem Kopf. Als ich auf dem Gelän­de einer ehe­ma­li­gen Kellogg’s‑Fabrik an einem von zwei Maschen­draht­zäu­nen ein­ge­rahm­ten und mit kal­ten Neon­röh­ren beleuch­te­ten Durch­gang vor­bei­kam, war mir rela­tiv schnell klar, dass dies die Loca­ti­on sein müs­se. Es war her­un­ter­ge­kom­men, wenig ein­la­dend, kalt und nach­ge­ra­de cine­as­tisch.

Ich habe zwei sehr freund­li­che nun­mehr Ex-Arbeitskolleg:innen, die zudem aus­ge­spro­chen gut aus­se­hen und grund­sätz­lich kei­ne Scheu haben, vor der Kame­ra zu ste­hen. Bei­de woll­te ich ger­ne als Model haben.

Zu mei­nem Glück erklär­ten sich bei­de rela­tiv kurz­fris­tig bereit, an dem etwas aus­ge­fal­le­nen Pro­jekt teil­zu­neh­men und so ging es für mich all­mäh­lich in die Vor­be­rei­tung.

Test­fo­to. Mit Bier und Wärm­fla­sche. Mar­cel ahnt noch nicht, dass er gleich stirbt. Und noch weni­ger, dass er ohne Jacke bei Tem­pe­ra­tu­ren um den Gefrier­punkt für eine gute Stun­de auf dem Boden lie­gen wird.

Das Wich­tigs­te habe ich zuerst besorgt: Bier. Bier hält Models näm­lich auch bei kal­ten Tem­pe­ra­tu­ren bei Lau­ne. Und den Foto­gra­fen eben­falls.

Wie ich erwähn­te, woll­te ich den Shoot durch­aus blu­tig gestal­ten. Und durch Zufall konn­te ich mich vage erin­nern, dass sich Chan­ti zum letz­ten Hal­lo­ween mit Kunst­blut ver­sorgt und über üppi­ge Res­te ver­füg­te — und so war auch das Blut­pro­blem direkt gelöst.

Im Vor­feld habe ich übri­gens mit ver­schie­de­nen Uten­si­li­en pro­biert, wie sich Blut­spren­k­ler am bes­ten gestal­ten las­sen und ein Make Up-Pin­sel stell­te sich als gute Wahl her­aus. Die Sprit­zer waren nicht zu klein (Zahn­bürs­te) und nicht zu groß. Special-Effects-Expert:innen mögen da noch bes­se­re Werk­zeu­ge in ihrem Reper­toire haben, aber für mein Foto soll­te der Make Up-Pin­sel rei­chen. Und falls du dich fragst, war­um ich einen Make Up-Pin­sel zuhau­se habe: war­um nicht?

Nach­dem Chan­ti mit Wärm­fla­sche sowie Bier, Mar­cel und ich nur mit Bier ver­sorgt waren, habe ich ein paar Pro­be­auf­nah­men gemacht, um mal zu prü­fen, wie die bei­den ide­al zuein­an­der­ste­hen, ob es hell genug ist und noch irgend­et­was an der Loca­ti­on gebas­telt wer­den muss­te.

Es pass­te aber alles und so konn­te es nach ein paar Pro­be­auf­nah­men los­ge­hen. Was zunächst hieß, dass der vor allem für mich spa­ßi­ge Teil begann: ich durf­te mei­ne Models ein­blu­ten.

Ich weiß gar nicht, wen ich dabei mehr bedau­ert habe: Chan­ti, der ich hem­mungs­los Kunst­blut in das Gesicht gepin­selt und auf den Arm geschmiert habe, oder Mar­cel, der bei den kal­ten Außen­tem­pe­ra­tu­ren auch noch rela­tiv kal­tes Kunst­blut über sein T‑Shirt gegos­sen bekam. War­um es mir übri­gens so viel Freu­de berei­tet hat, die bei­den mit Kunst­blut ein­zu­sau­en, mag einer tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen Ana­ly­se bedür­fen, soll aber nicht Gegen­stand die­ses Arti­kels sein.

Tja, nun. Blut muss sein.

Mit gro­ßer Freu­de konn­te ich dann mit dem Foto­gra­fie­ren begin­nen. Chan­ti hat mir die Arbeit dabei aus­ge­spro­chen leicht gemacht. Denn obwohl sie nicht pro­fes­sio­nell modelt, agiert sie aus­ge­spro­chen sou­ve­rän vor der Kame­ra, setzt auch klei­ne Ände­run­gen an Posen schnell um und hat vor allem viel Geduld mit mir. Mar­cel hat­te eigent­lich nicht viel zu tun, außer eben auf dem Boden zu lie­gen — gera­de in Anbe­tracht der kal­ten Außen­tem­pe­ra­tur lag mir dann aber schon sehr dar­an, den Shoot nicht unnö­tig aus­zu­wei­ten, schließ­lich soll­te er sich nicht mei­net­we­gen auf sei­ner Arbeit mit einer Lun­gen­ent­zün­dung krank­mel­den müs­sen.

Es ist beängs­ti­gend, wie wohl Chan­ti sich in ihrer Rol­le zu füh­len scheint.

Für ein wenig Amü­se­ment sorg­ten übri­gens die paar Pas­san­ten, die auf ihren Fahr­rä­dern den Durch­gang durch­fah­ren oder hin­durch spa­zie­ren muss­ten. Die blut­ver­schmier­te Chan­ti und der mit Blut voll­ge­siff­te Mar­cel dürf­ten schon ein wenig irri­tie­rend gewirkt haben, da das Set­ting aber klar als Foto­gra­fie erkenn­bar war, sorg­te unser Exzess mit künst­li­chem San­gu­is vor allem für Belus­ti­gung.

Armer Mar­cel. Aber gegen Chan­ti hat nie­mand eine Chan­ce.

Nach­dem ich mei­ne Fotos auf der Spei­cher­kar­te hat­te, konn­ten die Models sich end­lich wie­der warm anzie­hen und wir gemein­sam zum Abschluss noch ein Bier trin­ken.

Da nun nicht mehr erkenn­bar war, dass wir foto­gra­fie­ren, muss die Sze­ne­rie auf den freund­li­chen Herrn, der auf sei­nem Fahr­rad vor­bei­kam und die blut­be­spren­kel­te Chan­ti, die da mit ihrem Bier, ihrer Wärm­fla­sche und einer Ziga­ret­te saß und dabei sicht­lich guter Lau­ne war, durch­aus befremd­lich gewirkt haben.

Und ich rech­ne ihm unbe­kann­ter­wei­se sehr hoch an, dass er sich direkt bei ihr erkun­dig­te, ob wirk­lich alles in Ord­nung sei.

Mei­nen Hin­weis, dass wir gera­de foto­gra­fiert hät­ten, wies er gereizt zurück. Er habe nicht mich, son­dern sie gefragt. Und er wol­le von ihr hören, dass sie okay ist.

Ich habe wahn­sin­ni­gen Respekt und emp­fin­de gro­ße Hoch­ach­tung vor dem Herrn. Wir stan­den mit zwei Män­nern vor Chan­ti und er hat­te die Cou­ra­ge, ein­fach ste­hen­zu­blei­ben und ihr hel­fen zu wol­len.

Wir brach­ten den Abend dann bei mir daheim zu Ende. Als für­sorg­li­cher Foto­graf habe ich natür­lich alles auf­ge­fah­ren, was auf­ge­fah­ren wer­den kann, damit vor allem Chan­ti das gan­ze Blut von ihrem Arm und aus ihrem Gesicht wischen kann. So war ein klei­ner Well­ness-Abend sozu­sa­gen noch inbe­grif­fen, jeden­falls rede ich mir die hal­be Stun­de, die sie im Bad ver­brin­gen muss­te, um sich abzu­schrub­ben, auf die­se Wei­se schön.

Es ver­steht sich von selbst, dass ich die bei­den dann noch auf Bier und Piz­za ein­ge­la­den habe und wir direkt die Fotos gesich­tet und aus­ge­wählt haben.

Und so zog sich der Abend bei net­ten Gesprä­chen und hof­fent­lich für alle Betei­lig­ten schö­nen Erin­ne­run­gen bis in die Nacht.

Zum Abschluss daher noch ein­mal mei­nen auf­rich­ti­gen und herz­li­chen Dank an Chan­ti und Mar­cel: ihr seid groß­ar­tig und ohne euch wäre das Foto offen­sicht­lich nie­mals mög­lich gewe­sen.